Geschlechtsbezogene und sexualisierte Gewalt in der Wissenschaft

Forschungsüberblick

Die nachfolgenden Informationen geben einen Überblick über den internationalen Forschungsstand zu verschiedenen Aspekten im Forschungsfeld geschlechtsbezogener und sexualisierter Gewalt in der Wissenschaft. Für die Erstellung dieser Übersicht wurde aktuelle, meist englischsprachige Forschungsliteratur aus den Sozialwissenschaften herangezogen. An dieser Stelle soll beispielhaft auf nur vier Zeitschriften hingewiesen werden, die schwerpunktmäßig Artikel zu geschlechtsbezogener Gewalt (nicht nur in der Wissenschaft) veröffentlichen.

Das britische „Journal of Gender-Based Violence“ publiziert dreimal pro Jahr Beiträge, welche die Rolle geschlechtsbezogener Gewalt in Bezug auf soziale Strukturen, Ungleichheiten und Geschlechternormen thematisieren. Die Zeitschrift „Sex Roles“ veröffentlicht monatlich Erkenntnisse über Geschlechterunterschiede aus den Sozial- und Verhaltenswissenschaften, häufig dabei im Themenspektrum Sexismus und sexuelle Belästigung. Die Zeitschrift „Violence against Women“ erscheint ebenso monatlich und veröffentlicht zu allen Aspekten des Problems der Gewalt gegen Frauen, und das „Journal of Interpersonal Violence“ versteht sich als Diskussionsforum für Personen, die sich beruflich mit u.a. den Auswirkungen von Gewalt befassen.

In Deutschland stand das Thema der sexuellen Belästigung von Frauen an Hochschulen lange im Abseits des wissenschaftlichen Interesses. Bußmann und Lange trugen 1996 persönliche Erfahrungsberichte und Meldungen aus anderen Ländern zusammen. Einen weiteren Meilenstein stellt die von Kocher und Porsche bearbeitete Expertise der Antidiskriminierungsstelle des Bundes von 2015 dar, in der die für Hochschulen geltenden Regelungen mit der Praxis verglichen werden. Die Studie weist auf den hohen Nachholbedarf an Hochschulen, aber auch auf Seiten der Gesetzgeber hin.

Fallzahlen

Mit der quantitativen Erfassung des Vorkommens von geschlechtsbezogener und sexualisierter Gewalt widmen sich sehr viele Studien der Fragestellung, ob die Anzahl der berichteten Gewalterfahrungen tatsächlich als valide gelten kann oder ob die Fallzahl vielmehr die Berichtswahrscheinlichkeit bzw. mit der Wahrnehmung einer Handlung als „Gewalt“ unter den Befragten misst. Darüber hinaus wird in einer Vielzahl statistischer Daten nicht ausreichend über mögliche intersektionale Verschränkungen von Viktimisierung berichtet. Einen Politikvergleich zwischen den USA, Europa und Deutschland zum Umgang mit sexueller Belästigung findet sich bei Zippel.

Die Grundlagen zur Erfassung von geschlechtsbezogener und sexualisierter Gewalterfahrung (von Frauen) schufen Fitzgerald et al. in den frühen 1990er Jahren. Die Instrumente, z.B. der „Sexual Experiences Questionnaire“, werden seither weltweit eingesetzt und weiterentwickelt.

Bondestam und Lundqvist veröffentlichten 2020 eine Literaturauswertung über das Vorkommen verschiedener Formen von sexueller Belästigung in der Wissenschaft, die im Auftrag des Swedish Research Council entstand. Die Literaturauswertung umfasst u.a. die Prävalenz sexueller Belästigung in der Wissenschaft, ihre Auswirkungen wie auch die Wirksamkeit von Interventionsmaßnahmen in wissenschaftlichen Einrichtungen.

Häufungen und Mehrfachviktimisierung

Weitere Studien belegen den Zusammenhang verschiedener Formen von sexualisierter Gewalt. So zeigenbeispielsweise DeKeseredy et al. 2019, dass digitale Viktimisierung und sexuelle Übergriffe wie z.B. durch eine/n Intimpartner*in gemeinschaftlich auftreten. Eine Häufung von Stalking-Erfahrungen unter Cisgender-Frauen, nicht-genderkonformen und sexuellen Minderheiten konnten Fedina et al. 2019 in einer Untersuchung unter Studierenden an acht US-amerikanischen Universitäten nachweisen.

Eine Auswertung von öffentlich gewordenen Fällen sexuellen Fehlverhaltens von wissenschaftlichem Personal gegenüber Studierenden in den USA beleuchten Cantalupo und Kidder 2018. Die Studie stellt fest, dass einerseits in etwa in der Hälfte der 300 ausgewerteten Fälle ungewollter körperlicher Kontakt wie Begrapschen oder Nötigung von den Lehrkräften ausging und andererseits, dass in knapp über der Hälfte der Fälle den beschuldigten Wissenschaftler*innen eine ganze Reihe von sexuellen Übergriffen zur Last gelegt wurde, d.h. es sich um ein serielles Verhalten handelte.

Die Häufung von Fällen sexueller Belästigung wurde bereits mehrfach für Medizinstudierende und Ärzt*innen an Universitätskliniken nachgewiesen, wobei Frauen zwar in der Überzahl und dennoch besonders stark von sexuellen Übergriffen betroffen sind (Vargas et al. 2020). Die Studie „Watch-Protect-Prevent“ (2014-2016) zu Grenzüberschreitungen in der Medizin beleuchtet die Situation an der Charité in Berlin.

Auch für die Gewaltbetroffenheit von Studentinnen der Physik liegen Studien vor (Aycock et al. 2019), genauso wie für geschlechtsbezogene Gewalterfahrungen unter internationalen Studierenden (Forbes-Mewett/McCulloch 2016). Es wird davon ausgegangen, dass in männlich dominierten Berufsfeldern Frauen einem höheren Risiko ausgesetzt sind, sexuelle Belästigung zu erfahren (Haas/Timmerman 2010). Davon sind auch Frauen in Leitungspositionen in Naturwissenschaft und Technik nicht ausgenommen, wie eine Interviewstudie aus Großbritannien zeigen konnte (Howe-Walsh/Turnbull 2016).

Im Rahmen der breit angelegten Studie der Association of American Universities (AAU) untersuchten Kaasa et al. 2016 Eigenschaften und Rahmenbedingungen von Personen, die wiederholt sexuellen Übergriffen ausgesetzt waren. Die Studie zeigt, dass die Personengruppe, die wiederholt sexuellen Übergriffen ausgesetzt war, mehr Risikofaktoren auf sich vereint als Gruppen, die diese Erfahrung nicht mehrfach machen mussten. Ein erhöhtes Risiko für mehrfache Übergriffe besteht bei Studierenden beispielsweise in den ersten Jahren des Studiums, die vergleichsweise jung sind, weiblich, die einen Behindertenstatus haben oder die sich als nicht-heterosexuell bezeichnen. Betroffene von wiederholten oder mehrfachen Übergriffen waren häufiger als Nicht-Mehrfachbetroffene der Auffassung, dass sich der/die Täter im Falle einer Berichterstattung über den Vorfall rächen würde/n und waren weniger der Auffassung, dass andere Studierende und Hochschulverantwortliche den Opfern Schutz und Hilfestellungen zuteil lassen würden.

Effekte von geschlechtsbezogener und sexualisierter Gewalt auf Betroffene

Sexuelle Belästigung kann signifikante negative Folgen für das Wohlbefinden und die Gesundheit der viktimisierten Personen haben. Aycock et al. befragten US-amerikanische Physikstudentinnen nach ihren Erfahrungen und deren Folgen, die auch für vermeintlich minderschwere Fälle sexueller Belästigung nachgewiesen wurden. Es zeigen sich Auswirkungen auf Arbeitszufriedenheit, Arbeitsleistung und Leistungsbereitschaft, depressive Störungen sowie allgemeine Verschlechterungen des Wohlbefindens. Eine Zusammenfassung von individuellen und organisationalen Auswirkungen gibt die Studie der Nationalen Wissenschaftsakademien für Naturwissenschaften, Ingenieurwissenschaften und Medizin der USA von 2018.

Seit der Gründung einer Arbeitsgruppe 2015, die sich mit der Untersuchung von Formen und Fällen geschlechtsbezogener Gewalt an Hochschulen befasst, wird in Großbritannien Gleichstellungspraxis und Forschung in diesem Feld zusammengedacht. Einen Eindruck aus dem aktuellen Geschehen gibt der Sammelband von Anitha und Lewis 2018. In ihrer Expertise fasst Cantalupo 2014 die juristische Literatur mit den Befunden empirischer Untersuchungen für die US-amerikanischen Universitäten zusammen und weist darauf hin, dass Hochschulen, die freiwillig empirische Befragungen zum Thema sexuelle Übergriffe auf dem Campus durchgeführt haben, gegenüber denjenigen Hochschulen, die solche Umfragen nicht durchführten, im Vorteil sind (siehe hierzu auch die Seite Befragungsstudien).

Wie verhält sich das Phänomen der sexuellen Belästigung am Arbeitsplatz zum dort vorherrschenden Arbeitsklima? Lassen Faktoren aus dem Arbeitsumfeld frühzeitig erkennen, wie wahrscheinlich Fälle sexueller Belästigung sind? Tenbrunsel et al. weisen 2019 auf zahlreiche Kontextfaktoren in wissenschaftlichen Einrichtungen hin, z.B. hohes Machtgefälle, kurze Arbeitsvertragslaufzeiten oder Vorbildversagen, die zur Organisationsblindheit für diese Problematik führen und im Umgang mit Belästigungsfällen eine wichtige Rolle spielen. Fisher et al. weisen in ihrer Hochschulstudie von 2016 auf Formen sexualisierter Gewalt hin, in denen die viktimisierte Person sich nicht mehr wehren kann. Und Jordan et al. machen 2018 hinsichtlich sexistischer und heteronormativer Auffassungen auf die Diversität an Reaktionen unter Studierenden aufmerksam. 

Eine Interviewstudie (2019) im Auftrag des Niederländischen Professorinnennetzwerks LNVH wertet Berufserfahrungen wie Mobbing und Belästigungen, darunter auch sexuelle Belästigungen, von Wissenschaftlerinnen aus und betrachtet darüber hinaus damit einhergehende, hochschulkontextuelle Faktoren und berufliche wie persönliche Folgen für die Betroffenen.

Weitere Kontextfaktoren liegen in der vorherrschenden Unternehmenskultur und den dort üblichen Umgangsformen. Dort, wo Sexismus und Geschlechterstereotypen normalisiert und Frauen verdinglicht werden (Cogoni et al. 2018), kann von einer hohen (verdecken) Fallzahl geschlechtsbezogener und sexualisierter Gewalt ausgegangen werden (Whitley und Page 2015; Leon-Ramirez et al. 2018). McLaughlin et al. argumentieren, dass auch Frauen in Führungspositionen aufgrund ihres Geschlechts zum Ziel sexueller Belästigung werden, wenn sie als eine Bedrohung für männliche Autoritätsansprüche wahrgenommen werden.

Die Rolle der Hochschulen hinsichtlich des Schutzes vor Belästigung und Gewalt hinterfragen Iverson 2016 an US-amerikanischen Hochschulen und Phipps 2018 in Großbritannien. Regelungsdefizite kommen dabei genauso zur Sprache wie das Eigeninteresse der Hochschulen, einem drohenden Reputationsverlust durch die Veröffentlichung von Belästigungsfällen entgegenzuwirken. 

In ihrer Untersuchung von Interventionsprogrammen (2019) in US-amerikanischen Universitäten, in der Interventionsmaßnahmen für viktimisierte Personen, sexuell übergriffige Personen und Zeug*innen dieser Situationen untersucht wurden, weisen Mahoney et al. auf weitere Handlungsbedarfe hin. Zum einen seien Interventionen für Täter*innen nach der Tat hilfreich, um den Campus sicherer zu machen, zum anderen fordern sie eine konsequente Wirksamkeitsprüfung bestehender Verfahrensregeln an den Hochschulen. Sie sprechen sich zudem für Präventionsmaßnahmen aus, welche die Situationen, in denen vermehrt Übergriffe auftreten, berücksichtigen.

Einen anderen Ansatz verfolgen Schulungen zur Gewaltprävention für Männer (siehe u.a. Tolman et al. 2019). Peacock und Barker berichten 2014 über die Ergebnisse länderübergreifender Interventionen, in denen an Männlichkeitsrollenvorstellungen und geschlechtsgebundenen sozialen Praktiken zur Herstellung von Männlichkeit gearbeitet wurde. Ähnliche Ansätze finden sich auch in Trainings, die an Hochschulen zum Einsatz kommen. 

Tools und Ressourcen zu Prävention und Intervention haben wir auf dieser Unterseite für Sie zusammengestellt.

Ein häufig genutztes Mittel gegen eine Normalisierung von sexueller Belästigung am Arbeitsplatz stellen Schulungen dar, insbesondere von Personalverantwortlichen, die der Sensibilisierung und Bewusstseinsschärfung dienen. Eine Studie von Goldberg et al. von 2019 prüfte in diesem Zusammenhang die Wechselwirkungen zwischen der Toleranz von sexueller Belästigung innerhalb von Organisationen, dem Wissen über Meldeverfahren und mythen-verhafteten Einstellungen gegenüber sexueller Belästigung (siehe hierzu auch die Seite Befragungsinstrumente). Sie konnte nachweisen, dass das Toleranzniveau gegenüber sexueller Belästigung in Organisationen stark mit dem Wissen über Meldeverfahren korreliert, jedoch die Einstellungen unter den Personalverantwortlichen weniger durch eine Sensibilisierungsschulung verändert werden. Eine stärkere Nuancierung von Vermittlungsinhalten und klare Anwendungsbezüge fordert auch Greenhalgh-Spencer 2019 für das Thema Online-Belästigungen.

Eine systematische Metaanalyse (2019) von Hensman Kettrey und Marx fasst Daten aus 15 Studien (N= 6104) zusammen, in denen die Folgen von Präventionsprogrammen gegen sexuelle Übergriffe an Hochschulen hinsichtlich des Selbstwirksamkeitswertes der „Bystander“, der Interventionsabsicht und der tatsächlich erfolgten Intervention vonseiten der Bystander im Laufe der Studienjahre untersucht wurden. Der Vergleich zwischen den Programmen deutet darauf hin, dass die Programme, die sich an die Studierenden im ersten Studienjahr wenden, die besten Effekte zeigen. Banyard et al. sowie Bennett et al. legten 2014 die Grundlagen zur Untersuchung dieser Art von Präventionsprogrammen. Hoxmeier et al. untersuchen 2014 hingegen die Gründe, warum Studierende, die Zeugen von sexuellen Belästigungsfällen geworden waren, in der Situation nicht eingeschritten sind.

Tools und Ressourcen zu Prävention und Intervention haben wir auf dieser Unterseite für Sie zusammengestellt.

Einer der wichtigsten Gründe dafür, warum Fälle geschlechtsbezogener und sexualisierter Gewalt nicht gemeldet werden, stellt die Normalisierung von gewaltvollen Verhaltensweisen und von Sprache dar. Eine Studie an dänischen Universitäten zeigte, dass männliche einheimische Studierende im Vergleich zu weiblichen und internationalen Studierenden einerseits am seltensten von sexueller Belästigung betroffen waren, andererseits sexuelle Belästigungsfälle jedoch auch am seltensten als solche wahrnehmen. Guschke et al. wie auch Howlett fordern die Universitäten 2019 dazu auf, mehr Verantwortung für gemeinsame soziale Normen zu übernehmen und die Hochschulkultur dadurch sicherer zu gestalten. Fisher et al. fragen 2016 hingegen nach der Zufriedenheit mit den Unterstützungsangeboten, ähnlich wie die Arbeit von Sanders 2019, die sich mit den Erfahrungen von Gewaltopfern in Bezug auf das offizielle Meldeverfahren an der Hochschule befasst.

Weitere Gründe, warum Belästigungsfälle häufig nicht bei organisationsinternen Stellen gemeldet werden, zeigt Hart 2019 in einer Experimentalstudie auf. In diesem Experiment wurden die Studienteilnehmenden gebeten, die Arbeits-Performance anhand von Leistungsnachweisen von Frauen zu beurteilen und Vorschläge für eine Beförderung abzugeben. In den fiktiven Personalunterlagen war angegeben, dass die Frauen von sexueller Belästigung betroffen waren und ob sie diese selbst gemeldet hätten. Die Selbstmeldung führte im Experiment dazu, dass diese Frauen seltener für eine Beförderung vorgeschlagen wurden. Die Selbstmeldung führt also zu einer weiteren Benachteiligung durch soziale Sanktionierung.

 Pass the harasser– Die Hochschulen schweigen über das Problem und wollen die Täter*innen schnell loswerden. Diese entgehen ggf. den Auflagen für ihre Verfehlungen und die neuen Arbeitgeber*innen bleiben in Unkenntnis über die Vorfälle und treffen darum keine Vorkehrungen bzw. Präventivmaßnahmen.

Logo Lit@CEWS

Weitere Veröffentlichungen zu geschlechtsbezogener und sexualisierter Gewalt finden Sie in unserer Literaturdatenbank Lit@CEWS.