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Geschlechtsbezogene und sexualisierte Gewalt in der Wissenschaft

Forschungsüberblick

Diese Seiten bieten einen Überblick über den internationalen Forschungsstand zu verschiedenen Aspekten im Forschungsfeld geschlechtsbezogener und sexualisierter Gewalt in der Wissenschaft. Für die Erstellung dieser Übersicht wurde aktuelle, meist englischsprachige Forschungsliteratur aus den Sozialwissenschaften herangezogen. Zunächst soll beispielhaft auf vier Zeitschriften hingewiesen werden, die schwerpunktmäßig Artikel zu geschlechtsbezogener Gewalt (nicht ausschließlich in der Wissenschaft) veröffentlichen. Diese Zusammenstellung hat keinen Anspruch auf Vollständigkeit, das Ziel ist vielmehr, das Feld in seiner Breite aufzuzeigen.

Das britische „Journal of Gender-Based Violence“ publiziert dreimal pro Jahr Beiträge, welche die Rolle geschlechtsbezogener Gewalt in Bezug auf soziale Strukturen, Ungleichheiten und Geschlechternormen thematisieren. Die Zeitschrift „Sex Roles“ veröffentlicht monatlich Erkenntnisse über Geschlechterunterschiede aus den Sozial- und Verhaltenswissenschaften, häufig dabei im Themenspektrum Sexismus und sexuelle Belästigung. Die Zeitschrift „Violence against Women“ erscheint ebenso monatlich und veröffentlicht zu allen Aspekten des Problems der Gewalt gegen Frauen*, und das „Journal of Interpersonal Violence“ versteht sich als Diskussionsforum für Personen, die sich beruflich mit u.a. den Auswirkungen von Gewalt befassen.

In Deutschland stand das Thema der sexuellen Belästigung von Frauen an Hochschulen lange im Abseits des wissenschaftlichen Interesses. Bußmann und Lange veröffentlichten 1996 persönliche Erfahrungsberichte und Meldungen, die sie ausmehreren Ländern zusammentrugen. Einen weiteren Meilenstein stellt die von Kocher und Porsche erarbeitete Expertise der Antidiskriminierungsstelle des Bundes von 2015 dar, in der die für Hochschulen geltenden Regelungen mit der Praxis verglichen werden. Die Studie weist auf den hohen Nachholbedarf an Hochschulen, aber auch auf Seiten der Gesetzgeber hin. In den letzten zehn Jahren hat das Thema jedoch auch in der deutschsprachigen Forschung immer mehr Aufmerksamkeit erfahren.

Angaben zu neueren empirischen Studien finden Sie auf der Unterseite Befragungsstudien.

Fallzahlen

Bei der quantitativen Erfassung der Prävalenz von geschlechtsbezogener und sexualisierter Gewalt befassen sich viele Studien mit der Frage, ob die Anzahl der berichteten Gewalterfahrungen tatsächlich als valider Schätzwert gelten kann oder ob die Fallzahl eher die Wahrscheinlichkeit der Nennung (disclosure) bzw. der Wahrnehmung einer Erfahrung als „Gewalt“ unter den Befragten darstellt. Unterschiedliche Operationalisierungen von Gewalterfahrungen erschweren die Vergleichbarkeit von Prävalenzstudien. Darüber hinaus beschäftigt sich die Forschung zunehmend mit der Frage, wie intersektionale Verschränkungen von Viktimisierung in statistischen Daten sichtbar gemacht werden können.

Die Grundlagen zur Erfassung von geschlechtsbezogener und sexualisierter Gewalterfahrung (von Frauen) schufen Fitzgerald et al. in den frühen 1990er Jahren. Die Instrumente, z.B. der „Sexual Experiences Questionnaire“, werden seither weltweit eingesetzt und weiterentwickelt.

Bondestam und Lundqvist veröffentlichten 2020 einen Literaturüberblick über das Vorkommen verschiedener Formen von sexueller Belästigung in der Wissenschaft, der im Auftrag des Swedish Research Council entstand. Die Literaturauswertung umfasst u.a. die Prävalenzwerte sexueller Belästigung in der Wissenschaft, ihre Auswirkungen als auch die Wirksamkeit von Interventionsmaßnahmen in wissenschaftlichen Einrichtungen. Lipinsky und Schredl vergleichen in ihrem 2023 erschienen Beitrag empirische Messinstrumente geschlechtsbezogener Gewalt. Die Vergleichbarkeit zwischen den Studien ist, aufgrund der unterschiedlichen verwendeten Konzepte und Operationalisierungen, einschränkt. Bei der Interpretation der Fallzahlen muss dies berücksichtigt werden. Trotzdem gibt es viel Erkenntnispotenzial in kontext- und länderübergreifender Forschung, insbesondere wenn Kontextfaktoren stärker berücksichtigt werden.

Häufigkeit und Fächerkontexte

Studien belegen zudem einen Zusammenhang verschiedener Formen von geschlechtsbezogenen und sexualisierten Gewaltformen. Das zeigt beispielsweise eine Auswertung von öffentlich gewordenen Fällen sexuellen Fehlverhaltens von wissenschaftlichem Personal gegenüber Studierenden in den USA Cantalupo und Kidder 2018. Die Studie stellt fest, dass einerseits in etwa der Hälfte der 300 ausgewerteten Fälle ungewollter körperlicher Kontakt wie Begrapschen oder Nötigung von den Lehrkräften ausging und andererseits, dass in knapp über der Hälfte der Fälle den beschuldigten Wissenschaftler*innen mehrfach sexuelle Übergriffe zur Last gelegt wurde, d.h. es sich um ein serielles Verhalten handelte. Weiterhin ist belegt, dass von den Studierenden, die sexualisierte Gewalt an der Hochschule erfahren mussten, nur 0,4% berichten, darüber hinaus nicht ebenfalls sexuell belästigt worden zu sein.

Die große Anzahl von Fällen sexueller Belästigung wurde bereits mehrfach für Medizinstudierende, Pflegekräfte und Ärzt*innen an Universitätskliniken nachgewiesen, wobei Frauen in der Überzahl der Viktimisierten und zudem besonders stark von sexuellen Übergriffen betroffen sind (Schoenefeld et al. 2021; Vargas et al. 2020). Die Studie „Watch-Protect-Prevent“ (2014-2016) zu Grenzüberschreitungen in der Medizin beleuchtet die Situation an der Charité in Berlin. Auch an Kunst- und Musikhochschulen wurden vermehrt Fälle psychischer Gewalt und sexualisierter Übergriffe bekannt. Die oftmals individuelle und gleichzeitigt kompetitive Lehr- und Lernsituation an diesen Hochschulen begünstige das Auftreten von sexualisierter Gewalt und Diskriminierung (Fritzen & Bick, 2023; Kirschning, 2023). Die Situation in diesem Kontext wurde beispielsweise für die Hochschule für Musik und Theater München in einer Befragungsstudie zu Machtmissbrauch, Diskriminierung und sexualisierter Gewalt aufgearbeitet (Dill et al., 2024).

Für die Gewaltbetroffenheit von Studentinnen der Physik und den Folgewirkungen liegen Erkenntnisse vor (Aycock et al., 2019), genauso wie für geschlechtsbezogene Gewalterfahrungen unter internationalen Studierenden (Forbes-Mewett & McCulloch, 2016). Es wird davon ausgegangen, dass in männerdominierten Studiengängen und Berufsfeldern Frauen* einem höheren Risiko ausgesetzt sind, sexuelle Belästigung zu erfahren (Dresden et al., 2018). Davon sind auch Frauen in Leitungspositionen in Naturwissenschaft und Technik nicht ausgenommen, wie eine Interviewstudie aus Großbritannien zeigen konnte (Howe-Walsh & Turnbull, 2016).

Im Rahmen der breit angelegten Studie der Association of American Universities (AAU) untersuchten Kaasa et al. 2016 Eigenschaften und Rahmenbedingungen der Personen, die wiederholt sexuellen Übergriffen ausgesetzt waren. Die Ergebnisse zeigen, dass die Personengruppen, die wiederholt sexuellen Übergriffen ausgesetzt waren, mehr Risikofaktoren auf sich vereinen als Gruppen, die diese Erfahrung nicht mehrfach machen mussten. Die 2019 durchgeführte Wiederholungsstudie der AAU bestätigt diese Beobachtung (Cantor et al., 2020). Ein erhöhtes Risiko für mehrfache Viktimisierung besteht bei Studierenden beispielsweise in im ersten Studienjahr, die vergleichsweise jung sind, weiblich, die eine Behinderung haben oder die sich als nicht-heterosexuell bezeichnen. Betroffene von wiederholten oder mehrfachen Übergriffen waren häufiger als Nicht-Mehrfachbetroffene der Auffassung, dass sich der/die Täter im Fall einer Beschwerde über den Vorfall rächen würde/n und waren weniger der Auffassung, dass andere Studierende und Hochschulverantwortliche den gewaltbetroffenen Personen Schutz und Hilfestellungen zuteil lassen würden. 

Effekte von geschlechtsbezogener und sexualisierter Gewalt auf Betroffene

Sexuelle Belästigung kann signifikante negative Folgen für das Wohlbefinden und die Gesundheit der viktimisierten Personen haben. Aycock et al. befragten US-amerikanische Physikstudentinnen nach ihren Erfahrungen und deren Folgen, die auch für vermeintlich minderschwere Fälle sexueller Belästigung nachgewiesen wurden. Es zeigen sich Auswirkungen auf Arbeitszufriedenheit, Arbeitsleistung und Leistungsbereitschaft, depressive Störungen sowie allgemeine Verschlechterungen des Wohlbefindens. Es wird deutlich, dass es sich um langfristige Folgen handelt. Eine Zusammenfassung von individuellen und organisationalen Auswirkungen gibt die Studie der Nationalen Wissenschaftsakademien für Naturwissenschaften, Ingenieurwissenschaften und Medizin der USA von 2018. In ihrer Zusammenfassung spricht Hall 2023 von einer Krise der mentalen Gesundheit unter Wissenschaftler*innen aufgrund von normalisierter psychischer Gewalt und sexueller Belästigung.

Seit der Gründung einer Arbeitsgruppe 2015, die sich mit der Untersuchung von Formen und Fällen geschlechtsbezogener Gewalt an Hochschulen befasst, wird in Großbritannien Gleichstellungspraxis und Forschung in diesem Feld zusammengedacht. Einen Überblick über verschiedene Einflussfaktoren, die den Umgang mit geschlechtsbezogener Gewalt an Hochschulen, beeinflussen gibt der Sammelband von Anitha und Lewis (2018). Die Stimmen der Gewaltbetroffenen rücken in jüngeren Studien in den Fokus, um die Rahmenbedingungen des Meldeverhaltens und das Organisationshandeln von Wissenschaftseinrichtungen besser zu verstehen (Bull 2024; Pilinkaitė Sotirovič et al., 2024). Der Artikel von Anitha et al. aus 2024 befasst sich mit der Ausgestaltung von Richtlinien zu geschlechtsbezogener Gewalt an Hochschulen und wie diese sich auf das Fortbestehen oder die Überwindung bestehender Geschlechterrollen auswirken. In ihrer Expertise fasst Cantalupo (2014) die juristische Literatur mit den Befunden empirischer Untersuchungen für die US-amerikanischen Universitäten zusammen und weist darauf hin, dass Hochschulen, die freiwillig empirische Befragungen zum Thema sexuelle Übergriffe auf dem Campus durchgeführt haben, gegenüber denjenigen Hochschulen, die solche Umfragen nicht durchführten, im Vorteil sind (siehe hierzu auch die Seite Befragungsstudien).

Wie verhält sich das Phänomen der sexuellen Belästigung am Arbeitsplatz zum Arbeitsklima vor Ort? Lassen Faktoren aus dem Arbeitsumfeld frühzeitig darauf schließen, wie wahrscheinlich Fälle sexueller Belästigung sind? Tenbrunsel et al. weisen 2019 auf zahlreiche Kontextfaktoren in wissenschaftlichen Einrichtungen hin, z.B. hohes Machtgefälle, kurze Arbeitsvertragslaufzeiten oder Vorbildversagen, die zur Organisationsblindheit für diese Problematik führen und im Umgang mit Belästigungsfällen eine wichtige Rolle spielen. Neuere Studien beschreiben ähnliche Dynamiken für die neoliberale Logik an Hochschulen und den Umgang mit Intersektionalität und sexualisierter Gewalt (Colpitts 2022). O‘Connor et al. identifizieren 2021 drei Eigenschaften von Hochschulen, die das Vorkommen geschlechtsbezogener Gewalt begünstigen und gleichzeitig das strukturelle Angehen des Problems behindern: männlich dominierte Hierarchien, neoliberale Strukturen, und mangelnde Genderkompetenz in der Hochschulleitung.

Eine Interviewstudie (2019) im Auftrag des Niederländischen Professorinnennetzwerks LNVH wertet Erfahrungen am Arbeitsplatz wie Mobbing und Belästigungen, darunter auch sexuelle Belästigungen, von Wissenschaftlerinnen aus und betrachtet darüber hinaus damit einhergehende, hochschulkontextuelle Faktoren und berufliche wie persönliche Folgen für die Betroffenen. Weitere Kontextfaktoren liegen in der vorherrschenden Organisationskultur und den dort üblichen Umgangsformen, durch die beispielsweise Fehlverhalten normalisiert wird (Täuber et al. 2022).

Dort, wo Sexismus und Geschlechterstereotypen normalisiert und Frauen* verdinglicht werden (Cogoni et al., 2018), kann von einer hohen (verdeckten) Fallzahl geschlechtsbezogener und sexualisierter Gewalt ausgegangen werden (Whitley & Page 2015; Leon-Ramirez et al., 2018). Boivin et al. (2024) erläutern den Zusammenhang zwischen Sexismus und der „leaky pipeline“, dem Phänomen der Überrepräsentanz von Männern, je höher die Karrierestufe liegt. Ein toxisches Arbeitsumfeld und sexistische Einstellungen isolieren Frauen und behindern ihre akademische Laufbahn, dadurch Verlassen Frauen vermehrt die Wissenschaft. Hershcovis et al. zeigen 2021 auf, wie bestimmte soziale Zusammensetzungen sexuelle Belästigungen begünstigen und gleichzeitig das Schweigen über Fälle fördern, wodurch das Problem fortbesteht. Dies ist vor allem der Fall, wenn soziale Systeme männlich dominiert und auf die Täter*innen ausgerichtet sind, sowie wenn Mythen über sexuelle Belästigungen vorherrschen und Männlichkeit aufgewertet wird.

Die Rolle der Hochschulen hinsichtlich des Schutzes vor Belästigung und Gewalt hinterfragen Iverson (2016) an US-amerikanischen Hochschulen und Phipps (2018) in Großbritannien. Regelungsdefizite für Übergriffe kommen zur Sprache genauso wie das Eigeninteresse der Hochschulen, einem drohenden Reputationsverlust durch das Bekanntwerden von Belästigungsfällen entgegenzuwirken. Hester et al. (2023) näheren sich aus der Perspektive der Betroffenen der Frage, was Gerechtigkeit für sie bedeutet. In der Interviewstudie wird deutlich, dass es Betroffenen nicht um Vergeltung geht und auch nicht allein um strafrechtliche Konsequenzen für die Täter*innen. Zentral sei viel mehr Gehör zu bekommen, dass Täter*innen Verantwortung für ihre Taten übernehmen, sowie ein wirksamer Schutz vor weiteren Gewalterfahrungen. Hill und Crofts sprechen von einer Diskrepanz zwischen den rechtlichen Vorgaben bezüglich sexualisierter Gewalt und den existierenden Policies und Verfahren an britischen Hochschulen. Sie empfehlen ausreichende Ressourcen zur Ausgestaltung der Interventionen, das Wissen über Beschwerdewege zu vergrößern, sowie die gesamte Hochschulcommunity in Interventionsprozesse einzubinden.

Mahoney et al. (2019) untersuchten Interventionsmaßnahmen an US-amerikanischen Universitäten für viktimisierte Personen, sexuell übergriffige Personen und Zeug*innen dieser Situationen, daraufhin weisen sie auf weitere Handlungsbedarfe hin. Zum einen seien Interventionen für Täter*innen nach der Tat hilfreich, um den Campus sicherer zu machen, zum anderen fordern sie eine konsequente Wirksamkeitsprüfung bestehender Verfahrensregeln an den Hochschulen. Sie sprechen sich für Präventionsmaßnahmen aus, welche die Situationen, in denen vermehrt Übergriffe auftreten, berücksichtigen. Bull analysiert in einer britischen Interviewstudie (2024) die Perspektive von Betroffenen geschlechtsbezogener Gewalt auf Fehlstellen im Umgang der Hochschulen mit geschlechtsbezogener Gewalt und rückt damit die Bedarfe der Betroffenen ins Zentrum. Als besonders essenziell sehen die Befragten einen offenen Umgang und den Diskurs rund um die Thematik an, aber auch Schulungen, Präventionsmaßnahmen und ein besseres Meldeverfahren werden genannt.

Dobbin und Kalev (2020) starten bei der Frage, warum Interventionen gegen sexuelle Belästigung bisher nicht den gewünschten Effekt der Reduktion sexueller Belästigungen erreicht haben. Sie argumentieren, dass Interventionsmaßnahmen anders konzipiert werden müssen. Unter anderem schlagen sie einen stärkeren Fokus auf Bystander-Interventionsprogramme vor. Und anstatt komplizierter legalistischer Beschwerdeverfahren plädieren sie für weniger formale, aber dafür reaktionsschnellere Beschwerdestellen. Jordan et al. (2018) untersuchen das Potenzial von Bystander Interventionsprogrammen in dem Studierende einer britischen Universität zu ihren Reaktionen auf das Beobachten von geschlechtsbezogener Gewalt, vor allem in den Sozialen Medien und im universitären Nachtleben befragt wurden.

Tools und Ressourcen zu Prävention und Intervention haben wir auf dieser Unterseite für Sie zusammengestellt.

Sensibilisierung und Bewusstseinsschärfung von Personalverantwortlichen stellen wesentliche Instrumente der Prävention von sexueller Belästigung am Arbeitsplatz dar. Diesbezügliche Schulungen werden daher vielfach eingesetzt, um das Problembewusstsein zu schärfen und eine Normalisierung von Übergriffen zu verhindern. Eine Studie von Goldberg et al. von 2019 prüfte in diesem Zusammenhang die Wechselwirkungen zwischen der Toleranz gegenüber sexueller Belästigung in Organisationen, dem Wissen über Meldeverfahren und mythen-verhafteten Einstellungen gegenüber sexueller Belästigung (siehe hierzu auch die Seite Befragungsstudien). Sie konnte nachweisen, dass das Toleranzniveau gegenüber sexueller Belästigung in Organisationen stark mit dem Wissen über Meldeverfahren korreliert, jedoch die Einstellungen unter den Personalverantwortlichen weniger durch eine Sensibilisierungsschulung verändert werden. Eine stärkere Nuancierung von Vermittlungsinhalten und klare Anwendungsbezüge fordert auch Greenhalgh-Spencer (2019) für das Thema Online-Belästigungen. Kennedy et al. (2024) plädieren dafür kulturelle Faktoren bei der Ausgestaltung von Präventionsmaßnahmen zu berücksichtigen, um zu verhindern das kulturelle Diversität zu einem Hindernis für effektive Prävention wird.

Die Metaanalyse von Hensman Kettrey und Marx fasst Daten aus 15 Studien (N= 6104) zusammen, in denen die Folgen von Präventionsprogrammen gegen sexuelle Übergriffe an Hochschulen hinsichtlich des Selbstwirksamkeitswertes der aktiven „Bystander“, der Interventionsabsicht und der tatsächlich erfolgten Intervention vonseiten der Bystander untersucht wurden. Der Vergleich zwischen den Programmen deutet darauf hin, dass die Programme, die sich an die Studierenden im ersten Studienjahr wenden, die besten Effekte zeigen. Banyard et al. sowie Bennett et al. legten die Grundlagen zur Untersuchung dieser Art von Präventionsprogrammen. Hoxmeier et al. untersuchen hingegen die Gründe, warum Studierende, die Zeugen von sexuellen Belästigungsfällen geworden waren, in der Situation nicht einschritten. In ihrer Studie zu Trainingsprogrammen für Studierende zu digitaler geschlechtsbezogener Gewalt untersuchen Freude et al. (2024) ob diese Trainings zu einem besseren Verständnis des Problems und zu verbesserten Skills im Umgang mit digitaler Gewalt beitragen. Dabei untersuchten sie Unterschiede aufgrund des Geschlechts oder der sexuellen Orientierung.

Einen anderen Ansatz verfolgen Schulungen zur Gewaltprävention für Männer (siehe Tolman et al., 2019). Peacock und Barker berichten über die Ergebnisse länderübergreifender Interventionen, in denen an Männlichkeitsrollenvorstellungen und geschlechtsgebundenen sozialen Praktiken zur Herstellung von Männlichkeit gearbeitet wurde. Ähnliche Ansätze finden sich auch in Trainings, die an Hochschulen zum Einsatz kommen.

Tools und Ressourcen zu Prävention und Intervention haben wir auf dieser Unterseite für Sie zusammengestellt.

Einer der wichtigsten Gründe dafür, warum Fälle geschlechtsbezogener und sexualisierter Gewalt nicht gemeldet werden, stellt die Normalisierung von gewaltvollen Verhaltensweisen und von Sprache dar. Eine Studie an dänischen Universitäten zeigte, dass männliche einheimische Studierende im Vergleich zu weiblichen und internationalen Studierenden einerseits am seltensten von sexueller Belästigung betroffen waren, andererseits sexuelle Belästigungsfälle jedoch auch am seltensten als solche wahrnehmen. Guschke et al. wie auch Howlett fordern die Universitäten dazu auf, mehr Verantwortung für gemeinsame soziale Normen zu übernehmen und die Hochschulkultur dadurch sicherer zu gestalten. Pilinkaitė Sotirovič et al. (2024) finden in ihrer Interviewstudie Evidenzen dafür, dass informelle Regeln Betroffene von geschlechtsbezogener Gewalt davon abhalten ihre Erfahrungen zu melden, auch wenn formale Meldeverfahren vorgesehen sind.

Fisher et al. fragen 2016 hingegen nach der Zufriedenheit mit den Unterstützungsangeboten. Reilly (2024) vergleicht verschiede existierende Meldemechanismen und -instrumente an schottischen Hochschulen. Sie spricht sich für ein einheitliches Meldeverfahren aus, um sicherzustellen das alle Studierenden den gleichen Zugang zu Meldestellen. Hagerlid et al. sprechen sich in ihrer Studie von 2023 für Maßnahmen aus, die Universitätsangehörige dabei unterstützen sexuelle Belästigung als solche wahrzunehmen. Sie finden eine Diskrepanz zwischen gelebten Erfahrungen und der Interpretation dieser, wodurch auch weniger Fälle gemeldet würden.   

Weitere Gründe, warum Belästigungsfälle häufig nicht bei organisationsinternen Stellen gemeldet werden, zeigt Hart 2019 in einer Experimentalstudie auf. In diesem Experiment wurden die Studienteilnehmenden gebeten, die Arbeits-Performance anhand von Leistungsnachweisen von Frauen zu beurteilen und Vorschläge für eine Beförderung abzugeben. In den fiktiven Personalunterlagen war angegeben, dass die Frauen von sexueller Belästigung betroffen waren und ob sie diese selbst gemeldet hätten. Die Selbstmeldung führte im Experiment dazu, dass diese Frauen seltener für eine Beförderung vorgeschlagen wurden. Die Selbstmeldung führt also zu einer weiteren Benachteiligung durch soziale Sanktionierung.

Pass the harasser– Die Hochschulen schweigen über das Problem und wollen die Täter*innen schnell loswerden. Diese entgehen ggf. den Auflagen für ihre Verfehlungen und die neuen Arbeitgeber*innen bleiben in Unkenntnis über die Vorfälle und treffen darum keine Vorkehrungen bzw. Präventivmaßnahmen.

Die Wissenschaft ist weiterhin stark geprägt von Rassismus, Klassismus, Ableismus, einem binären Geschlechterverständnis und Heterosexismus. Der folgende Abschnitt gibt einen ersten Überblick über die Literatur, die beschreibt und analysiert, wie unterschiedliche Diskriminierungsformen mit geschlechtsbezogener und sexualisierter Gewalt zusammenhängen und sich gegenseitig beeinflussen.

Zunehmend setzen sich Studien im Feld der Wissenschaft mit der Verschränkung von geschlechtsbezogener Gewalt und weiteren, verschiedenen Diskriminierungsformen auseinander. Mehrere Studien zeigen auf, dass nicht nur Frauen ein erhöhtes Risiko dafür haben von geschlechtsbezogener Gewalt betroffen zu sein, sondern insbesondere Frauen, die durch weitere Merkmale einer marginalisierten Personengruppe angehören Gewalt erfahren. Zudem sind sämtliche Geschlechtsidentitäten, außer cis-Männer, häufiger von Gewalt betroffen. Trans* und nicht-binäre Personen, aber auch Menschen queerer sexueller Orientierungen erfahren häufiger geschlechtsbezogene Gewalt als cis-geschlechtliche oder heterosexuelle Menschen.

Über die individuelle Ebene hinaus, zeigt Guschke in ihrer Dissertation von 2023 am Beispiel dänischer Universitäten auf, wie intersektionale Machtverhältnisse und Geschlechterrollen vom Wissenschaftssystem gefördert und reproduziert werden. Dadurch bestehen Sexismus und Rassismus an Hochschulen fort. Wenngleich ohne den Fokus auf Rassismus, zeigt Wanggren ein ähnliches Argument aus dem britischen Wissenschaftssystem. Strukturelle Ungleichheiten und Hierarchien an Universitäten gepaart mit immer prekäreren Arbeitsverhältnissen dienen als idealer Nährboden für geschlechtsbezogene und sexualisierte Gewalt.

Eine Einordnung der Herausforderungen und Grenzen, die ein intersektionales Verständnis von geschlechtsbezogener Gewalt an Hochschulen mit sich bringt, stellt beispielsweise Rosenstreich 2023 vor. Die intersektionale Perspektive sollte nicht dazu führen, dass Diskriminierungserfahrungen nur immer weiter summiert werden, um Repräsentanz und sogenannte Safe Spaces zu schaffen. Innerhalb einer von Machtungleichgewichten geprägten Gesellschaft und Hochschule, sei die Existenz von tatsächlich diskriminierungsfreien Räumen ein Trugschluss. Die Verschränkungen von Diskriminierungen müssen dennoch erkannt und angegangen werden, um Präventionsmaßnahmen und Anlaufstellen zu schaffen, die eine möglichst sichere und diskriminierungsarme Hochschule für alle ermöglichen. Auch Colpitts (2022) beschreibt die Diskrepanz an kanadischen Hochschulen zwischen deren Bekenntnis zu einem intersektionalen Ansatz in ihren Maßnahmen gegen geschlechtsbezogene Gewalt und der tatsächlichen Umsetzung davon in die Praxis.

Weitere Informationen zum Thema Intersektionalität können Sie auf der Seite Intersektionalität. Machtsysteme in der Wissenschaft erforschen finden.

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Weitere Veröffentlichungen zu geschlechtsbezogener und sexualisierter Gewalt finden Sie in unserer Literaturdatenbank Lit@CEWS.