Gleichstellung von Frauen begünstigt Wirtschaftswachstum


Kategorien: Frauen- und Geschlechterforschung; Geschlechterverhältnisse; Wissenschaft Aktuell

In Ländern und Regionen Europas, in denen Frauen spät heirateten, hat sich die Wirtschaft in den vergangenen 500 Jahren besser entwickelt. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie der Wirtschaftshistorikerin Alexandra de Pleijt von der Universität Wageningen in den Niederlanden und des Wirtschaftshistorikers Jörg Baten von der Universität Tübingen. Die Studie wurde im Fachjournal World Development veröffentlicht. 

„Eine frühe Hochzeit verkürzte die Zeit, in der junge Frauen einer Tätigkeit auf dem Hof oder dem Arbeitsmarkt nachgehen konnten. Nach der Hochzeit blieben die Frauen dann auf das Leben im Haushalt beschränkt“, erklärte Jörg Baten, Professor für Wirtschaftsgeschichte an der School of Business and Economics in Tübingen. Das Heiratsalter gilt Ökonomen deshalb als ein Maß für die Gleichstellung zwischen den Geschlechtern. 

Das Forschungsteam konnte nun erstmals nachweisen, dass Frauen durch eine längere Eigenständigkeit „numerische Fähigkeiten“ besser ausprägten. „Numerische Fähigkeiten“ bezeichnen den Umgang mit Zahlen, Proportionen und Wahrscheinlichkeiten. Sie können auch ohne formale Schulbildung erworben werden und gelten Wirtschaftshistorikern als wichtige Voraussetzung für die ökonomische Entwicklung einer Gesellschaft. Baten und de Pleijt werteten Volkszählungen und Aufzeichnungen von „Hexenprozessen“ aus 27 Ländern und 153 Regionen in Europa vom 16. Jahrhundert bis zum Ende des 19. Jahrhundert aus. Rundeten Frauen bei Befragungen und Verhören ihr Alter auf Zehner- oder Fünferschritte auf oder ab, fehlte ihnen oft eine präzise Zahlenvorstellung. In Regionen, in denen früh geheiratet wurde, rundeten Frauen besonders häufig ihr Lebensalter. Danach setzten Baten und de Pleijt das durchschnittliche Heiratsalter mit den numerischen Fähigkeiten in Beziehung. Im Alpenraum und in Mittel- und Nordeuropa heirateten Frauen zwischen 1500 und 1900 erst mit Mitte zwanzig und gaben deutlich häufiger ihr Lebensalter präzise an. In Ost- und Südosteuropa heirateten Frauen im selben Zeitraum im Schnitt vor ihrem zwanzigsten Lebensjahr und rundeten häufiger auf oder ab – sie hatten also nicht dieselben numerischen Fähigkeiten erlernt.

„Die wirtschaftliche Entwicklung war in Regionen besser, in denen Frauen spät heirateten und numerische Fähigkeiten besser ausprägen konnten. Genau dort fand im 19. Jahrhundert auch die industrielle Revolution statt“, so Alexandra de Pleijt, Forscherin an der Abteilung Economic and Environmental History der Universität Wageningen. Die Zusammenhänge zeigten sich in der statistischen Auswertung sowohl zwischen Regionen und Ländern, als auch über die Jahrhunderte hinweg. Der Einfluss der Frauen wird verständlicher, wenn ihre Rolle bei der Erziehung und Bildung ihrer Kinder berücksichtigt wird. „Wenn Mütter selbst über numerische Fähigkeiten verfügten, konnten sie ihre Söhne und Töchter zum Erlernen dieser Fähigkeiten anregen und so die gesamte wirtschaftliche Entwicklung beeinflussen“, so de Pleijt.

Ein Grund für die kulturellen Unterschiede, was das Heiratsalter betrifft, sieht das Forscherteam in der Vieh- und Mildwirtschaft im Alpenraum und in Mittel- und Nordeuropa: Für das Melken und Füttern der Kühe sei nicht so viel Muskelkraft erforderlich wie für das Pflüge von Äckern und die Ernte von Korn. „Frauen haben deshalb in bäuerlichen Gesellschaften, die stärker auf Vieh- und Milchwirtschaft basieren, eine wichtigere Rolle in den Arbeitsprozessen und mussten erst später heiraten“, erklärte Baten. 

Das Team zieht Parallelen aus der historischen Untersuchung zur heutigen Entwicklung in manchen Weltgegenden. In Regionen mit geringer Gleichstellung der Geschlechter, wie zum Beispiel Süd- und Zentralasien, entwickelten sich die numerischen Fähigkeiten ebenfalls langsamer – und entsprechend langsamer wuchs die Wirtschaft.

Publikation:

Joerg Baten, Alexandra M. de Pleijt, „Female autonomy generated successful long-term human capital development: Evidence from 16th to 19th century Europa, World Development, October 2022. https://doi.org/10.1016/j.worlddev.2022.105999

Kontakt: Prof. Dr. Jörg Baten, Universität Tübingen, School of Business and Economics, Department of Economic History, joerg.baten@uni-tuebingen.de

Quelle: PM - Universität Tübingen, 21.12.2022