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Nach zehn Jahren des Fortschritts wächst die Kluft zwischen den Geschlechtern 2017


Kategorien: Frauen- und Geschlechterforschung; Geschlechterverhältnisse; Gleichstellungspolitik; Europa und Internationales; Netzwerke und Organisationen; Statistik; Wissenschaft Aktuell

Ein Jahrzehnt lang war langsamer, aber stetiger Fortschritt bei der Verbesserung der Gleichstellung der Geschlechter zu verzeichnen – 2017 kam der Fortschritt zum Erliegen. Zum ersten Mal seit der Veröffentlichung des Global Gender Gap Report des Weltwirtschaftsforums im Jahr 2006 hat sich die Kluft zwischen den Geschlechtern weltweit vergrößert.

Die am 2. November 2017 veröffentlichten Ergebnisse zeigen, dass insgesamt 68 % der globalen Geschlechterkluft überwunden sind. Das ist eine leichte Verschlechterung gegenüber 2016 und 2015, als 68,3 % bzw. 68,1 % der Lücke geschlossen waren. Grund für die Verschlechterung ist eine Vergrößerung des Geschlechtergefälles in allen vier Säulen des Berichts: Bildungsniveau, Gesundheit und Lebenserwartung, wirtschaftliche Beteiligung und politische Mitwirkung. Die beiden letztgenannten Bereiche sind besonders besorgniserregend, da sie ohnehin bereits die größten Lücken aufweisen und bis zu diesem Jahr die schnellsten Fortschritte verzeichneten.

Bei der derzeitigen Fortschrittsrate wird die weltweite Geschlechterkluft in 100 Jahren geschlossen sein, letztes Jahr waren es noch 83 Jahre. Das Geschlechtergefälle am Arbeitsplatz wird nach Schätzungen des Berichts erst in 217 Jahren überwunden sein. Allerdings sehen mehrere Studien eine Verbindung zwischen der Gleichstellung der Geschlechter und einer besseren Wirtschaftsleistung und so widersetzen sich auch einige Länder dem düsteren globalen Trend: Mehr als die Hälfte aller 144 Länder, die in diesem Jahr bewertet wurden, haben in den letzten 12 Monaten ihren Wert verbessert.
„Die Kluft zwischen den Geschlechtern zu schlieβen, ist ein moralisches und ökonomisches Gebot. Der Welt entgeht die Chance, wenn sie die Hälfte aller verfügbaren Talenten nicht fördert und nutzt. Wir müssen die Vorurteile – ob verborgen oder nicht – überwinden, die uns daran hindern, das Geschlechtergefälle zu beheben“, so Klaus Schwab, Gründer und Executive Chairman des Weltwirtschaftsforums.

Der Global Gender Gap Index 2017

An der Spitze des Global Gender Gap Index steht Island. Das Land hat seine Geschlechterkluft zu fast 88 % überwunden und ist seit neun Jahren das Land mit der größten Geschlechtergerechtigkeit. Der Abstand zwischen Island und dem zweitplatzierten Norwegen wird größer, da sowohl Norwegen als auch das drittplatzierte Finnland ihre jeweilige Lücke dieses Jahr vergrößern. Ruanda (4) und Schweden (5) komplettieren die Top 5. Die nächsten beiden Länder im Index, Nicaragua (6) und Slowenien (7), erreichen in diesem Jahr ebenfalls symbolische Meilensteine, denn sie können erstmals 80 % ihrer jeweiligen Lücke schließen. Irland (8), Neuseeland (9) und die Philippinen (10) vervollständigen die Top 10.

Von den G-20-Staaten erreicht Frankreich (11) die höchste Geschlechterparität, gefolgt von Deutschland (12), Großbritannien (15), Kanada (16), Südafrika (19) und Argentinien (34). Die USA fallen um vier Plätze auf Position 49, während am unteren Ende der Gruppe nicht weniger als sechs Länder auf oder über Platz 100 liegen. Dabei handelt es sich um China (100), Indien (108), Japan (114), Korea (118), die Türkei (131) und Saudi-Arabien (138).

Im Jahr 2017 haben 27 Länder die Geschlechterkluft beim Bildungsniveau geschlossen. Das sind drei Länder mehr als im Vorjahr. Insgesamt 34 Länder – vier weniger als im Vorjahr – haben ihre Geschlechterkluft bei Gesundheit und Lebenserwartung überwunden. Nur sechs Länder haben die Lücke bei diesen beiden Säulen geschlossen. In den Bereichen wirtschaftliche Beteiligung und Chancengleichheit hat kein Land das Geschlechtergefälle vollständig behoben, aber 13 Länder (zwei mehr als im letzten Jahr) haben mehr als 80 % ihrer jeweiligen Lücke geschlossen. Bei der politischen Mitwirkung existiert die größte Geschlechterkluft und nur Island hat mehr als 70 % dieser Kluft überwunden. Vier Länder haben die 50 %-Grenze überschritten und 34 Länder haben weniger als 10 % der Lücke geschlossen (fünf weniger als im Vorjahr). Gewichtet nach der Bevölkerung liegen 95 Länder dieses Jahr unter dem weltweiten Durchschnitt (0,227) des Teilindex politische Mitwirkung.

„2017 sollten wir keinen Rückschritt bei der Geschlechterparität sehen. Trotzdem verhält es sich so. Gleichzeitig ist es aber auch wahr, dass in den letzten Jahren ordentliche Fortschritte erzielt wurden, da viele Länder jetzt von den proaktiven Maßnahmen profitieren, die sie ergriffen haben, um ihre Geschlechterkluft zu überwinden“, so Saadia Zahidi, Leiterin des Bereichs Education, Gender and Work am Weltwirtschaftsforum.

Wie lange noch bis zur Parität?

Beim aktuellen Tempo wird es noch ein Jahrhundert dauern, bis die globale Geschlechterkluft geschlossen ist – im Vorjahr waren es noch 83 Jahre. Die größten Herausforderungen bestehen nach wie vor in den Bereichen Wirtschaft und Gesundheit. Bei der derzeitigen Veränderungsrate wird es weitere 217 Jahre dauern, bis das wirtschaftliche Geschlechtergefälle überwunden ist. Dies stellt eine Umkehr des Fortschritts dar und ist der schlechteste Wert, den der Index seit 2008 gemessen hat. Das Forumsprojekt „Closing the Gender Gap“ zielt darauf ab, die Geschwindigkeit des Wandels hin zur Geschlechterparität zu beschleunigen – und zwar durch globalen Dialog und ein nationales öffentlich-privates Kooperationsmodell, das derzeit in drei Ländern aktiv ist und 2018 weiter ausgebaut werden soll.

Die Fortschritte bei der Überwindung der Geschlechterkluft im Bereich Gesundheit sind nach wie vor nicht klar definiert. Formal existiert hier die kleinste Lücke, aber der Fortschritt ging mit einem allgemeinen Abwärtstrend einher. Heute ist die Kluft größer als 2006, was zum Teil auf spezifische Probleme in bestimmten Ländern zurückzuführen ist, insbesondere in China und Indien. Obwohl beim politischen Geschlechtergefälle die größten Fortschritte zu verzeichnen sind, besteht hier noch immer die größte Lücke und es könnte weitere 99 Jahre dauern, sie zu schließen. Die Bildungslücke zwischen den Geschlechtern hingegen könnte, ausgehend von den aktuellen Trends, innerhalb der nächsten 13 Jahre behoben werden.

In allen Regionen ist die Geschlechterkluft geringer als vor elf Jahren, obwohl die Fortschritte auf globaler Ebene stagnieren. Mit den heutigen Fortschrittsraten kann das gesamte globale Geschlechtergefälle in Westeuropa in 61 Jahren überwunden sein, in 62 Jahren in Südasien, in 79 Jahren in Lateinamerika und der Karibik, in 102 Jahren in den Ländern Afrikas südlich der Sahara, in 128 Jahren in Osteuropa und Zentralasien, in 157 Jahren in Nahost und Nordafrika, in 161 Jahren in Ostasien und der Pazifik-Region und in 168 Jahren in Nordamerika.

Das wirtschaftliche Argument für Parität

Verschiedene Studien lassen darauf schließen, dass die Verbesserung der Geschlechterparität zu erheblichen wirtschaftlichen Gewinnen führen kann, die je nach Situation der einzelnen Volkswirtschaften und ihren spezifischen Herausforderungen unterschiedlich ausfallen. Bemerkenswerte jüngste Schätzungen gehen davon aus, dass wirtschaftliche Geschlechterparität das BIP von Großbritannien um 250 Milliarden USD erhöhen könnte, das der Vereinigten Staaten um 1.750 Milliarden USD, das von Japan um 550 Milliarden USD, das von Frankreich um 320 Milliarden USD und das deutsche BIP um 310 Milliarden USD.

Andere jüngste Schätzungen deuten darauf hin, dass China bei einer Gleichstellung der Geschlechter einen Anstieg des BIP um 2,5 Billionen USD erleben könnte und dass die ganze Welt das globale BIP bis 2025 um 5,3 Billionen USD steigern könnte, wenn man das Geschlechtergefälle in der wirtschaftlichen Beteiligung im gleichen Zeitraum um 25 % überwindet. Angesichts der damit verbundenen Anteile der Staatseinnahmen am BIP würde letztgenannte Leistung auch zusätzliche Steuereinnahmen in Höhe von 1,4 Billionen USD freisetzen, den größten Teil davon (940 Milliarden USD) in Schwellenländern, was auf die potenziellen Selbstfinanzierungseffekte zusätzlicher öffentlicher Investitionen zur Überwindung globaler Geschlechtergefälle schließen lässt.
Die wirtschaftlichen Argumente für Parität betreffen auch die Industrie- und Unternehmensebene. Um weitere Fortschritte zu erzielen, wird es die richtige Herangehensweise sein, die derzeitigen Ungleichheiten nach Branchen anzugehen. In Forschungsarbeit mit LinkedIn stellt der Bericht fest, dass Männer in den Bereichen Bildung, Gesundheit und Soziales unterrepräsentiert sind und Frauen im Ingenieurwesen, in der Fertigung und im Bauwesen sowie in Information, Kommunikation und Technologie. Eine solche Segmentierung nach Geschlecht bedeutet, dass den Branchen die potenziellen Vorteile einer stärkeren Geschlechterdiversität entgehen: mehr Innovation, Kreativität und Rendite. Diese Lücken sind jedoch nicht nur ein „Pipeline-Problem“, das heißt, unabhängig von der Qualifikation der berufstätigen Frauen haben Männer generell mehr Führungspositionen inne. Folglich wird es nicht ausreichen, sich auf die Korrektur von Ungleichheiten in der allgemeinen und beruflichen Bildung zu konzentrieren; auch innerhalb der Unternehmen sind Veränderungen erforderlich.

Methodik

Der Global Gender Gap Index erfasst 144 Länder nach ihrer Kluft zwischen Männern und Frauen anhand von Indikatoren für die Bereiche Gesundheit, Bildung, Wirtschaft und Politik. Ziel ist es zu verstehen, ob die Länder ihre Ressourcen und Chancen gerecht auf Frauen und Männer verteilen, unabhängig von ihrem Gesamteinkommensniveau. Der Bericht misst das Ausmaß der Ungleichheit zwischen den Geschlechtern in vier Bereichen:

1. Wirtschaftliche Beteiligung und Chancen – Gehälter, Beteiligung und Führung
2. Bildung – Zugang zu Grund- und Hochschulbildung
3. Politische Mitwirkung – Repräsentation in Entscheidungsstrukturen
4. Gesundheit und Lebenserwartung – Lebenserwartung und Geschlechterverhältnis

Die Indexwerte können als der Prozentsatz der Lücke zwischen Frauen und Männern gelesen werden, der bereits geschlossen wurde, und sie erlauben es den Ländern, ihre aktuelle Leistung mit ihrer früheren zu vergleichen. Darüber hinaus ermöglichen die Rankings Vergleiche zwischen den Ländern. Insgesamt 13 der 14 zur Erstellung des Index verwendeten Variablen stammen aus öffentlich zugänglichen Zahlen und Fakten internationaler Organisationen wie der Internationalen Arbeitsorganisation, dem Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen und der Weltgesundheitsorganisation, und eine Variable stammt aus einer vom Weltwirtschaftsforum durchgeführten Meinungsumfrage. In der letztjährigen Ausgabe wurde eine aktualisierte Schwelle für die Schätzung der Geschlechterparität beim Erwerbseinkommen eingeführt. In der diesjährigen Ausgabe wurde diese Einkommensgrenze vollständig entfernt und auch die primäre Bezugsquelle für den Indikator Geschlechterverhältnis bei der Geburt aktualisiert.

System Initiative on Education, Gender and Work

Die Systeminitiative des Weltwirtschaftsforums zur Gestaltung der Zukunft von Bildung, Geschlecht und Arbeit („System Initiative on Shaping the Future of Education, Gender and Work“) möchte es Menschen ermöglichen, ihr Potenzial voll auszuschöpfen, indem sie ihre Talente entwickeln und einsetzen und so zu prosperierenden Wirtschaften und Gesellschaften beitragen. Die Systeminitiative bietet in ihren drei Modulen Folgendes an: Wissenswerkzeuge wie den Global Gender Gap Report, den Global Human Capital Report, den Future of Jobs Report, Dialogreihen wie Creating the Care Economy und Reskilling the Adult Workforce und die öffentlich-private Zusammenarbeit wie Closing the Skills Gap, Preparing for the Future of Work und Closing the Gender Gap. Die Systeminitiative wird von einer weltweit renommierten Führungsgruppe geleitet, die sich aus den wichtigsten Persönlichkeiten und Organisationen weltweit zusammensetzt, einschließlich CEOs, Ministern, Wissenschaftlern und Leitern internationaler Organisationen.

Quelle, Regionale Ergebnisse und weitere Informationen: 

PM - World Economic Forum, 02.11.2017

Report: http://reports.weforum.org/global-gender-gap-report-2017/

Systeminitiative: https://www.weforum.org/system-initiatives/shaping-the-future-of-education-gender-and-work
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