Inhalt: "Wissenschaftskulturen in Deutschland" lautet der Titel einer großangelegten Studie, die die VolkswagenStiftung Ende 2021 in Auftrag gegeben hat. Die Vorgabe war es, Wandel und Transformationen des deutschen Wissenschaftssystems in Tiefe und Breite zu analysieren – etwa in puncto Karriereverläufe. Und anschließend aus den Befunden konkrete Empfehlungen für das Förderhandeln der Stiftung abzuleiten.
Die Studie wählt inhaltlich einen systemisch ganzheitlichen und in der Methodik einen qualitativen, sehr kommunikationsorientierten Zugang. Damit sollen die unterschiedlichen Zugänge zur Entwicklung von Wissenschaftskulturen einzelner Akteursgruppen wie Wissenschaftler:innen, wissenschaftliche Institutionen und Förderorganisationen sowie die Wissenschaftspolitik berücksichtigt werden.
Michael Ploder
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Wissenschaftliche Erhebungen und der öffentliche Diskurs im Rahmen von Veranstaltungen ergänzen und begleiten einander im Laufe des auf knapp 12 Monate angelegten Projektes.
Ausgehend von einer Literaturanalyse haben wir im April 2022 einen Workshop mit nationalen und internationalen Expert:innen aus Wissenschaft und Praxis durchgeführt. Daraufhin haben wir das empirische Konzept noch einmal verfeinert. Weitere wichtige Anregungen zur Vorbereitung der Interviews ergaben sich aus zwei öffentlichen Veranstaltungen mit ausgewählten Expert:innen aus verschiedenen Bereichen des Wissenschaftssystems.
Hintergrund der Studie und Forschungslücke: Die VolkswagenStiftung baut aktuell einen neuen Profilbereich „Wissen über Wissen“ auf, mit dem sie gezielte Impulse zur strukturellen Verbesserung von Wissenschaft in Deutschland geben wird. Im Rahmen des Projekts „Wissenschaftskulturen in Deutsch- land“ (2022) haben wir untersucht, wie Wissenschaftler:innen in verschiedenen Forschungsfeldern und Disziplinen das Arbeiten und Leben am Wissenschaftsstandort Deutschland wahrnehmen und welche Möglichkeiten und Herausforderungen sie für Wissenschaftskulturen in Deutschland ausmachen. Ziel war es, eine aktuelle Zustands- und Problembeschreibung zu erarbeiten, aus der sich Ideen für die För- dertätigkeit der Stiftung sowie für einen positiven Wandel in den Wissenschaftskulturen in Deutschland ableiten lassen.
Im Rahmen des Projekts verstehen wir Wissenschaftskulturen als multidimensional: Sie setzen sich aus epistemischen, sozialen, organisationalen und gesellschaftlichen Dimensionen zusammen. Wir sprechen daher auch von Wissenschaftskulturen im Plural: Während es Rahmenbedingungen auf gesellschaft- licher und organisationaler Ebene gibt, die für alle Wissenschaftsfelder in Deutschland gelten, sind manche feldspezifisch, und Forschungsfelder haben ihre eigenen epistemischen und sozialen Praktiken und Normen, vor deren Hintergrund sie organisationale und gesellschaftliche Rahmenbedingungen deuten und verhandeln.
In Deutschland haben Fragen des Arbeitens und Lebens in der Wissenschaft in den letzten Jahren vor allem entlang der Protestbewegungen aus dem wissenschaftlichen Nachwuchs, #IchbinHanna und #IchbinReyhan (Bahr et al., 2022), an Aufmerksamkeit gewonnen, die auf prekäre Beschäftigungsver- hältnisse und einhergehende Einschränkung von Qualität, Kreativität, Produktivität und auch Diversität in der Wissenschaft hinwiesen. Diese Protestbewegungen, die Evaluierung des Wissenschaftszeitver- tragsgesetzes 2022 oder Vorstöße einiger Universitäten, neue Anstellungsformen vor allem für Postdocs zu etablieren, haben zu einer intensiven Diskussion der Situation des wissenschaftlichen Nachwuchses geführt. Was allerdings weitgehend fehlt, sind Auseinandersetzungen und Analysen, die eine systemi- sche Perspektive einnehmen und in diesem Sinn Wissenschaftskulturen in Deutschland aus der Sicht verschiedener Akteur:innen und ihrer Interaktionen in den Blick nehmen.
Zugang und Vorgehensweise: Der Begriff „Wissenschaftskulturen” ist in der Literatur bestenfalls vage definiert. Ein Großteil der verfügbaren Forschungsarbeiten konzentriert sich auf epistemische Kulturen, d. h., wie unterschiedlich Forschungsfelder ihre Forschungsgegenstände erschließen. Wissenschafts- kulturen werden aber signifikant von weiteren Rahmenbedingungen geprägt, die auf gesellschaftlicher und organisationaler Ebene angesiedelt sind: Strukturen der Forschungsförderung, Karrieremöglich- keiten in und außerhalb der Wissenschaft, gesellschaftliches Ansehen des Feldes, breitere soziale und politische Veränderungen. Um den Einfluss dieser weiteren Rahmenbedingungen auf verschiedene For- schungsfelder einzufangen, hat unsere Studie, die mit zwölf Monaten Laufzeit relativ kurz angelegt war, einen methodischen Ansatz gewählt, der zum einen Akteur:innen breit in die Diskussion und Analyse involviert hat, zum anderen fokussiert in die Tiefe ging. Zu diesem Zweck haben wir im Rahmen von mehreren Diskussionsveranstaltungen im Jahr 2022 erstens mit einer Vielzahl von Akteur:innen im deutschen Wissenschaftssystem – vom wissenschaftlichen Nachwuchs bis zur Wissenschaftspolitik – über ihre Wahrnehmung von Wissenschaftskulturen in Deutschland diskutiert. Zweitens haben wir parallel dazu mittels qualitativer Fallstudien Wissenschaftskulturen in vier Feldern in den Sozial-, Geistes-, Natur- und Technikwissenschaften in Deutschland analysiert, um so gezielt Unterschiede zu identifizieren. Diese empirischen Daten wurden drittens mit Interviews und Workshops mit nationalen und internationalen Expert:innen in der Wissenschafts- und Technikforschung sowie Science Policy Studies kombiniert. Das Ergebnis ist ein Schlaglicht auf die Wissenschaftskulturen in Deutschland, das Impulse setzen kann für neue Handlungswege in der Wissenschaftspolitik und -förderung.
Unterschiede der Wissenschaftskulturen in vier ausgewählten Feldern in Deutschland: Die unter- suchten Felder – Soziologie, Environmental Humanities, KI-Forschung und synthetische Biologie – weisen signifikant unterschiedliche Wissenschaftskulturen auf. Während die Soziologie und die Environ- mental Humanities einen Beitrag zur positiven Entwicklung von Gesellschaft und zur Bewältigung gesell- schaftlicher Krisen als zentrale Aufgaben ihrer Felder sehen, definieren Forscher:innen in der KI und der synthetischen Biologie ihren Auftrag eher innerwissenschaftlich und sehen positive gesellschaftliche Effekte indirekt oder induziert in den möglichen Anwendungen ihrer Technologien in der Zukunft. Gleichzeitig nehmen die Soziologie und die Environmental Humanities wahr, dass trotz ihres Selbstver- ständnisses gesellschaftlich und politisch eher Naturwissenschafts- und Technikfeldern gesellschaftliche Relevanz zugeschrieben wird.
In allen vier Feldern werden soziale und epistemische Dynamiken vom feldspezifischen Arbeitsmarkt außerhalb der Wissenschaft geprägt: während es für Forscher:innen in der Soziologie und den Environ- mental Humanities schwierig erscheint, Arbeitsfelder zu finden, in denen sie ihre kritisch-analytischen Fähigkeiten einbringen können, leidet die KI unter einem Mangel an talentierten Forschenden, die ob der guten Arbeitsbedingungen in der Privatwirtschaft in der akademischen Wissenschaft bleiben wollen. In der synthetischen Biologie, einem stark interdisziplinären Feld, variieren die Aussichten der Wissen- schaftler:innen nach ihrem spezifischen Hintergrund. D. h., es kann schwer sein, kompetente Daten- wissenschaftler:innen für akademische Stellen zu finden, und leichter sein, Biolog:innen zu rekrutieren. In den Feldern mit schwachem außerakademischem Arbeitsmarkt führt dies zu hoher Konkurrenz zwischen Wissenschaftler:innen, was sich vor allem in einem steigenden Publikationsdruck auswirkt. Dies führt tendenziell zu unterschiedlichen negativen Effekten: In der synthetischen Biologie ist es zunehmend schwierig, Artikel zu publizieren, weil die relevanten Journale zu viele Einsendungen erhalten; in der Soziologie, einem Feld wo empirische Forschung üblicherweise einiges an Zeit braucht, kommt es zur Mehrfachpublikation derselben Ergebnisse.
Die vier Felder unterscheiden sich auch signifikant in ihrem Verständnis von Originalität. Während in der Soziologie Originalität auf verschiedenen Ebenen begründet sein kann, d. h., sowohl in der Entwicklung von Konzepten und Methoden als auch in der Anwendung bestehender Konzepte und Methoden auf neue Gegenstände, begründen KI-Forscher:innen Originalität in erster Linie in der Entwicklung von neuen Algorithmen (i.e. Methoden). Die Anwendung bestehender Algorithmen auf neue Themen (z. B. in Kooperation mit Forschenden in anderen Feldern) gilt für KI-Forscher:innen kaum als innovativ, auch wenn dies als Innovation in den Kooperationsfeldern gesehen wird. In den Environmental Humanities stellt v.a. die interdisziplinäre Integration von Theorien und Methoden aus verschiedenen Feldern und ihre Anwendung auf Umweltthemen Originalität dar, während in der synthetischen Biologie technolo- gische Innovationen, die die leichtere Synthese organismischer Komponenten erlauben, als originell gelten.
Die Felder weisen darüber hinaus einen unterschiedlichen Grad der Internationalisierung auf. Während Internationalität in der KI und der synthetischen Biologie relativ reibungslos gelebt wird, ist sie in der Soziologie und den Environmental Humanities mit unterschiedlich gelagerten Herausforderungen ver- bunden. Die Soziologie ist stark national orientiert und Deutsch ist weitgehend die Arbeitssprache; Internationalisierung ist ein Desiderat, das mit dem Versuch in Spannung steht, Deutsch als Arbeits- sprache nicht aufzugeben. Die Environmental Humanities, ein stark internationalisiertes und interdis- ziplinäres Feld, leiden daran, dass sie in der nach wie vor disziplinär und national orientierten For- schungslandschaft der deutschen Sozial-/Geisteswissenschaften nur schlecht Fuß fassen können.
Gemeinsame Herausforderungen ungeachtet kultureller Unterschiede: Alle untersuchten und bei den Veranstaltungen diskutierten Felder sind stark auf Drittmittel angewiesen, allerdings ist die E
Schlagwörter:Arbeitssituation; Befristung; Bewertung; Diversität; fachspezifische Situation; Forschungsförderung; Gender; Karriereweg; Nachwuchswissenschaftler*in; Peer Review; Professor*in; science culture; Wissenschaftskultur; Wissenschaftssystem
CEWS Kategorie:Wissenschaft als Beruf
Dokumenttyp:Graue Literatur, Bericht