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Grenzen als Kontrollorte – Staatsgrenzen fixieren, verschieben und neu erfinden


Kategorien: Pressemitteilung

Globalisierung und die stetige Bewegung von Gütern, Kapital, Informationen und nicht zuletzt Personen über nationalstaatliche Grenzen hinweg stellen das herkömmliche Verständnis von territorialen Grenzen zunehmend infrage. Gleichzeitig erleben wir ein erneutes Aufkommen physischer Grenzbarrieren, den Neubau von Mauern und Grenzzäunen, in Griechenland, Ungarn oder den USA. Und zuletzt, angesichts der COVID-19-Pandemie, auch die Rückkehr von Grenzkontrollen und Einreisebeschränkungen innerhalb der EU. Grenzen werden in einer globalisierten Welt nicht obsolet – so der Ausgangspunkt der neuesten Ausgabe der Historical Social Research (HSR) „Borders as Places of Control“.

Staaten passen ihre Grenzen auf verschiedene Weisen den neuen Herausforderungen an und erfinden sie neu. Die in diesem von Fabian Gülzau, Steffen Mau und Kristina Korte herausgegebenen Themenheft der HSR versammelten Artikel rücken die (Kontroll-) Funktion von Grenzen in den Fokus und untersuchen, wie Kontrolle in verschiedensten Settings organisiert und ausgeführt wird – von der US-amerikanisch-mexikanischen Grenze über die EU bis hin zu nicht anerkannten de-facto Grenzen im Gebiet in der ehemaligen Sowjetunion.

Insbesondere seit dem Fall der Berliner Mauer entstand im Zusammenspiel mit der rasanten Zunahme grenzüberschreitender Transaktionen durch Wirtschaft, Tourismus, Migration, globale Institutionen und technologische Innovationen die Idee einer grenzenlosen Welt. In einigen Regionen wie dem Schengenraum wurden Grenzen und Grenzkontrollen tatsächlich massiv abgebaut; die Vorstellung fixer territorialer Grenzen scheint damit weniger haltbar geworden, auch wenn ihre Bedeutung als Mittel der Separation und Kontrolle angesichts globaler Ungleichgewichte anderswo noch an Bedeutung gewonnen hat und teils durch physische Grenzbefestigungen untermauert wurde. Die These eines weitreichenden Kontrollverlustes durch globalisierende Kräfte sehen die Herausgeber*innen daher nicht bestätigt. Grenzen haben sich grundsätzlich als widerstandsfähige Institutionen erwiesen. Nichtsdestotrotz mussten und müssen Staaten die Kontrolle ihrer Grenzen immer wieder an neue Realitäten anpassen – sie fixieren, verschieben oder neu erfinden – um sie zu erhalten.

Das HSR Themenheft, das vom GESIS - Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften herausgegeben wird, greift diese Entwicklungen auf und macht vier grundlegende Tendenzen unter ihnen aus: Erstens zeigt sich das Bestreben, territoriale Grenzen durch die Errichtung von Grenzmauern und Zäunen zu sichern, wie kürzlich in den USA, Ungarn oder an der griechischen EU-Außengrenze zu beobachten. Solche physischen Barrieren verstärken zwar Grenzen, können jedoch nicht nur als Zeichen der Stärke, sondern auch als Signal schwindender Souveränität von Staaten gelesen werden. Zweitens wird die Funktion von Grenzen durch die Externalisierung von Kontrollen zunehmend von der tatsächlichen Grenzlinie abgekoppelt. Durch Instrumente wie Visa und Rücknahmeabkommen werden Grenzkontrollen weit abseits der Grenzen in Botschaften und Konsulate verlagert oder an Drittländer übertragen. Drittens werden mithilfe digitaler Überwachungstechnologien zunehmend smart borders installiert: Biometrische Daten mobiler Personen werden gesammelt und zwischen Staaten und Behörden ausgetauscht, um Migration und Mobilität zu kontrollieren. Und viertens entstehen aus territorialen Konflikten in instabilen Regionen sogenannte de-facto Grenzen, die nicht unter staatlicher Kontrolle liegen, aber ähnliche Funktionen wie Staatsgrenzen erfüllen. Die Annexion der Krim oder türkisch kontrollierte Gebiete in Syrien sind Beispiele für solche Dynamiken.

Der Themenband schlägt damit vor, Grenzen nicht (nur) als Orte im Sinne der tatsächlichen Grenzlinien zu betrachten, sondern vor allem ihre Funktion in den Fokus zu rücken. In dieser Lesart sind Grenzen Kontrollinfrastrukturen, die sich aus physischer Infrastruktur, Personal, politischen Richtlinien und digitalen Technologien zusammensetzen. Sie dienen der Kontrolle durch Abgrenzung, Sortierung, Kategorisierung und Othering. Erst durch diesen Perspektivwechsel wird ersichtlich, wie Staaten ihre Grenzen in Reaktion auf neue Herausforderungen und Krisen digitalisieren, befestigen oder externalisieren.

Aktuell zeigt sich am Beispiel der COVID-19-Pandemie, der sich zwei Beiträge widmen, dass in Krisenzeiten externalisierte Formen der Kontrolle wie Visa und Einreisebeschränkungen reimportiert und internalisiert werden können, um zur Bekämpfung des Virus die Mobilität von (Nicht-) EU-Bürger*innen zu begrenzen – oder diese durch Testpflichten, Impfpässe und die digitale Überwachung von Quarantänevorschriften zu kontrollieren. Die weiteren Beiträge des Heftes entwerfen eine Typologie befestigter Grenzen und untersuchen deren Effekt auf die Mobilität (als Filter oder Blockade) anhand der Fallstudien Algerien/Marokko, Ungarn/Serbien, Indien/Pakistan und USA/Mexiko. Sie fragen danach, wie sich im Kontext von Migration die Externalisierung von Grenzkontrollen durch die EU auf die Machtverhältnisse zwischen Zielländern und Transitstaaten wie der Türkei auswirkt. Und sie beleuchten anhand des Eurodac Systems, in dem die EU Staaten Fingerabdrücke von Asylbewerber*innen und irregulären Immigrierenden sammeln und austauschen, die Konvergenz von Einwanderungsmanagement und Kriminalitätsbekämpfung in smart border Technologien. Schließlich betrachten zwei Beiträge die Dynamik der de-facto Grenzen von sechs nicht anerkannten Staaten in der Region der ehemaligen Sowjetunion sowie an der Kontaktlinie zwischen der Ukraine und der nicht durch die Regierung kontrollierten Donbas Region. All diese Fallstudien veranschaulichen die Komplexität heutiger Grenzen und Grenzkontrollen, in der fixierte territoriale Grenzen zwar nicht abgelöst, aber durch neue Formen und Orte der Kontrolle ergänzt werden.

Die Historical Social Research (HSR) ist eine internationale begutachtete (peer-reviewed) wissenschaftliche Fachzeitschrift für die Anwendung formaler Methoden zur Beschreibung und Analyse historischer Ereignisse, Strukturen und Prozesse und erstreckt sich fachlich von historisch-sozialwissenschaftlicher Geschichtsforschung, über empirische quantitative und qualitative Sozialforschung bis hin zur Kliometrie und den Digital Humanities.

Einleitung in den Themenband: „Borders as Places of Control. Fixing, Shifting, and Reinventing State Borders“, Ausgabe 46 (2021) 3 der Historical Social Research (HSR).

Ansprechpartnerinnen bei GESIS – Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften:
Dr. Philip Janßen
philip.janssen@gesis.org