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Sozial bedingte Bildungsungleichheit bleibt im Bildungsverlauf bestehen


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Nachteile von Schülerinnen und Schülern mit niedriger Bildungsherkunft bleiben auch im Bildungsverlauf bestehen. Jugendliche mit Migrationshintergrund hingegen holen im Laufe der Sekundarstufe, insbesondere bei gleicher Bildungsherkunft und Ressourcenausstattung, gegenüber einheimischen Schülerinnen und Schülern auf. Dies belegt eine Studie aus der neuen Ausgabe des Informationsdienst Soziale Indikatoren, ISI 63, der von GESIS – Leibniz Institut für Sozialwissenschaften herausgegeben wird.

In Deutschland stellt der Übergang von der Grund- zur weiterführenden Schule eine der wichtigsten Weichen für den individuellen Bildungsweg von Schülerinnen und Schülern. Die empirische Forschung hat bereits wiederholt gezeigt, dass sich die soziale und ethnische Herkunft besonders stark auf diesen frühen Übergang auswirkt. Die Autoren der nun neu veröffentlichten Studie, Karin Kurz, Judith Lehmann und Julian Theunissen (Georg-August-Universität Göttingen & Teach First Deutschland gGmbH) stellen daher die Frage, inwieweit sich die sozial oder ethnisch bedingte Chancenungleichheit im Verlauf der Sekundarstufe verändert und inwiefern die benachteiligten Gruppen von nachträglichen Korrekturmöglichkeiten in Form von Alternativwegen zur allgemeinen oder fachgebundenen Hochschulreife profitieren können; dies insbesondere vor dem Hintergrund  eines zu verzeichnenden quantitativen Anstiegs alternativer Schulformen, die zur (Fach-) Hochschulreife führen. Als Datengrundlage dienen ihnen Datensätze des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) aus den Jahren 2000 bis 2016 für die Geburtsjahrgänge 1983 bis 1995.

Der Vergleich der Wahrscheinlichkeiten, dass Jugendliche mit unterschiedlicher sozialer oder ethnischer Herkunft zu Beginn der Sekundarstufe I (Sek I, Unter-und Mittelstufe) das Gymnasium besuchen, und dass sie zum Ende der Sekundarstufe II (Sek II, Oberstufe) die (Fach-) Hochschulreife erreichen, zeigt: Der relative Anteil an Schülerinnen und Schülern in der gymnasialen Mittelstufe entspricht in etwa dem Anteil, der später auch die Allgemeine Hochschulreife erreicht. Dabei verbessern Jugendliche aus Familien mit hoher Bildungsherkunft ihre Position noch leicht von 60,4 auf 63,7%. Die Gruppe mit niedriger Bildungsherkunft bleibt bei 24,5 bzw. 25 %. Herkunftseffekte in Bezug auf die elterliche Bildung schwächen sich also im Bildungsverlauf nicht ab, es deutet sich tendenziell sogar eine leichte Verstärkung an.

Die Gruppe der zu Beginn der Sek I ebenfalls benachteiligten Jugendlichen mit Migrationshintergrund hingegen kann ihre Position verbessern. Ihr Abstand reduziert sich im Laufe der Sekundarstufe von ca. 14 Prozentpunkte auf 11, bezieht man Abitur und Fachhochschulreife mit ein, sogar auf 9,5 Prozentpunkte.  Berücksichtigt man weitere Kontrollvariablen wie den Bildungshintergrund der Eltern, bestätigt sich dieser positive Trend. Zu Beginn der Sek I besuchen Kinder mit Migrationshintergrund im Schnitt um 8,4 % seltener das Gymnasium als einheimische Kinder – bei Erreichen des Abiturs beträgt der Unterschied nur noch 4,8 Prozentpunkte, unter Berücksichtigung von Abitur und Fachhochschulreife sogar nur 3 Prozentpunkte. Die Forschenden betonen jedoch, dass Jugendliche mit Migrationshintergrund überproportional aus Familien mit niedriger Bildungsherkunft stammen und somit insgesamt deutlich seltener in höheren Sekundarschulformen vertreten sind, sodass das grundsätzlich erfreuliche Ergebnis nicht überbewertet werden darf.

Kann man nun schlussfolgern, dass der zunehmende Ausbau von Fachoberschulen, Fach- oder Berufsgymnasien und anderen Alternativen zum Gymnasium zum Abbau der Bildungsungleichheiten und damit zur Bildungsgerechtigkeit beitragen? Im Zeitverlauf findet die Studie für die zwischen 1983 und 1995 geborenen Jugendlichen einen linearen Anstieg der Wahrscheinlichkeit für einen Besuch des Gymnasiums sowie den Erwerb der (Fach-) Hochschulreife, der in Bezug auf Bildungsherkunft oder Migrationshintergrund nicht variiert. Dieser Befund widerspricht der Hypothese der Forschenden, dass der Ausbau von alternativen Sekundarschulformen die Chancen für beim ersten Schulwechsel benachteiligte Schülergruppen verbessert haben könnte. Im Gegenteil: Die Studie liefert keine Anzeichen dafür, dass der Ausbau alternativer Schulformen den Erwerb der Hochschulreife wahrscheinlicher macht – weder für alle Jugendlichen insgesamt, noch für die einzelnen betrachteten Gruppen. Sie weist zudem eine hohe negative Korrelation zwischen der Anzahl an Gesamt- und Aufbauschulender Bundesländer auf.

Die gesamten Beiträge des ISI 63 können Sie hier (1,18 MB) kostenfrei herunterladen.